"Leontinetante, erzähl." Mit dieser Aufforderung, von "neunzehnjährigen Halunken" im Januar 1941 in einem Viehwaggon aus Siebenbürgen unterwegs nach Deutschland ausgesprochen, beginnt dieser erstaunlich reife und formbewusste Debütroman vonUrsula Ackrill. Leontine Philippi, 53 Jahre alt, sitzt im Unterschied zu den jungen Männern nicht freiwillig in diesem Waggon, der nächtens die klandestinen Siebenbürger Sachsen nach Westen und zum Dienst in der Waffen-SS transportiert, damit sie - als rumänische Staatsbürger deutscher Sprache - nicht in der rumänischen Armee Dienst tun und sich von deren Offizieren kommandieren lassen müssen. Schließlich haben ihnen die Herren aus der NSDAP der Deutschen Volksgruppe, Hitlers verlängertem Arm im Land, in ihren Propagandakampagnen oft genug versichert, dass sie im Reich gebraucht würden und durch ihren mutigen Einsatz auch die Schmach tilgen könnten, fernab des neu erstarkten Reiches in ihrer Heimat hinter den Rumänen und Ungarn fast schon auf gleicher Stufe mit Juden und Zigeunern zu rangieren. Die deutsche Seele der Siebenbürger Sachsen trägt nämlich schwer an den Kränkungen, die sie seit dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn 1867 hinzunehmen hatte, als man zum Königreich Ungarn geschlagen wurde, und dann ein zweites Mal nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als man seine jahrhundertealten Privilegien der Selbstbestimmung eingebüßt hatte und zum rumänischen Staatsbürger geworden war. Dass man als stolzer Siebenbürger Sachse nunmehr in deutschnational uniformierten Paraden durch die Straßen zieht, um die Rumänen zu provozieren, hält Leontine - sie ist die zentrale Figur dieses Buches - für "defensiven Schwachsinn. Von der Schlagkraft aufgeregter Bienen. Stechen und draufgehen."
Leontine hat noch vor dem Ersten Weltkrieg in Wien Geschichte studiert und dort auch die Schriften Sigmund Freuds für sich entdeckt. Als gebildete Patriziertochter schreibt sie an einer Chronik der Stadt Zeiden, welche sie wohlweislich unter Verschluss hält. Sie ist die einzige Person in einem Chor von Stimmen, die sich gegen den nationalen Taumel ausspricht. Denn anders als der historisch verbürgte Andreas Schmidt, der von 1940 bis 1944 Volksgruppenführer der Deutschen Volksgruppe war, hat sie gelernt, Politik als interessengesteuerten Prozess zu betrachten, ideologische Propaganda und weltfremde Träumereien nicht für bare Münze zu nehmen.
Ursula Ackrill, 1974 im siebenbürgischen Kronstadt geboren und heute als Bibliothekarin in Nottingham lebend, bündelt das oft verwirrend widersprüchliche, sich überlagernde zeitgeschichtliche Geschehen wie in einem Brennglas. Dafür genügen ihr wenige, bis auf die Uhrzeit präzise datierte Tage im Januar 1941 - selbstverständlich mit ebenso genau benannten Rückblicken bis zum Beginn des Jahrhunderts in die Geschichte der Stadt sowie Seitenblicken, etwa nach Bukarest.
Dort wird nämlich damals besonders drastisch die Rumänisierung betrieben: Ackrill schildert die überwiegend kriminellen Geschäfte der rumänischen Legionäre, jener militanten faschistischen Bewegung, bei der Enteignung der rumänischen Juden. Die junge Rumänin Maria, aus Zeiden stammend und zeitweilig von Leontine unterrichtet, hilft gar einem jüdischen Handlanger der Rumänisierer beim Verkauf des wertvollen Raubgutes. Dies allerdings nur, bis sie den schwer von Legionären malträtierten und an seinen Verletzungen sterbenden Sohn ihres Geschäftspartners in den Armen hält. Wenige Tage später - am Ende des Buches - wird sie wieder in Zeiden sein, bei Leontine. Aber warum diese abreisen muss und in aller Eile ihren Rucksack packt, das wird sie nicht verstanden haben.
Es ist bei alledem erstaunlich, wie die Debütantin Ackrill sich für ihr Erzählen jener Januartage 1941 einen Ton und einen Sprachgebrauch erarbeitet hat, der die sprachliche Fremdheit jener Region in eine Kunstsprache überführt. Grammatikalische und syntaktische Eigenheiten aus jenem Umgangsdeutsch verleihen dem Text eine spezifische Färbung, eine Art Sepia-Sound, der den erzählten Episoden bei aller Fiktionalität historische Authentizität verleiht.
Aber worum geht es nun in jenem Januar 1941 in Zeiden wirklich? Während sich die Bürger der Stadt zu einem Vortrag des Volksgruppenführers Andreas Schmidt im Rathaus versammeln, werden in anderen Räumen dieses Hauses Freiwillige für die Waffen-SS gemustert. So werden politische Tatsachen geschaffen, die unabhängig vom Willen der Bürger die Siebenbürger Sachsen zu Komplizen von Hitlers Verbrechen werden lassen. Dies sieht Leontine durch einen Zufall, und sie weiß die Folgen vorauszusehen - anders als ihr langjähriger Gesprächspartner und Freund, der Zeidener Schularzt Franz Herfurth, von dem es heißt, er habe sie in ihrer Außenseiterposition nicht zu trösten gewusst. "Er war einer der Männer, die Edith hungrig angingen, sie wie eine lebendige Auster auszuschlürfen, und von ihr geringer als von einem Wirbeltier dachten." Besagte Edith wiederum ist die allein lebende Apothekerin von Zeiden. Ihr Vater ist der "reichsdeutschen" Ideologie verfallen, sie aber hat einen Gehilfen namens Joseph, einen geistig Behinderten, dem unverblümt mit den Euthanasie-Anstalten gedroht wird. Und der diese Drohung ausspricht, ist der ebenfalls historisch verbürgte spätere "Auschwitz-Apotheker" Victor Capesius.
Ursula Ackrills Roman ist reich an solchen Schlaglichtern auf die Mentalität der Siebenbürger Sachsen. Sie versteht es bestens, diesen höchst fragwürdigen, oftmals rassistisch-chauvinistischen Positionen der noch unsicher dilettierenden siebenbürgischen Nationalsozialisten einen eigentümlichen Zusammenhang zu verleihen. Vieles lässt sie in fiktiven Dialogen vortragen und verhandeln, um dann lapidar und pointiert-diagnostisch die Szene zu beenden.
Wie absichtslos rückt die Kleinstadt Zeiden und deren Geschichte neben der Protagonistin des Romans ins Zentrum des Geschehens. Offenbar eignet sie sich sehr viel besser als eine der größeren siebenbürgischen Städte, besser als Kronstadt, Hermannstadt oder Klausenburg, dazu, erzählerisch den Fokus auf ein historisches Kammerspiel einzustellen, an dem sich das Geschick dieser Minderheitengesellschaft entscheidet. 1930 lebten etwa 5.200 Menschen in dieser Kommune, davon 3.100 Siebenbürger Sachsen, 1.900 Rumänen und 150 Ungarn. 2013 lebten in ganz Rumänien noch etwa 36.000 "Rumäniendeutsche", Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben. Umso erstaunlicher erscheint es, dass der deutschsprachige Bürgermeister von Hermannstadt, Klaus Johannis, im Dezember 2014 zum neuen Präsidenten Rumäniens gewählt wurde. Übrigens war Johannis in Hermannstadt einst der Physiklehrer von Ursula Ackrill.
Lauter minutiöse Momentaufnahmen vom allmählichen Wandel einer Kleinstadt finden sich in diesem Buch. Die Entstehung des Zeidener Waldbads beschreibt Ursula Ackrill ebenso wie - mit einem Seitenblick auf Kafkas Besuch der Flugschau in Brescia 1909 - die verwegenen Flugabenteuer des Albert Ziegler, eines Testpiloten und Flugzeugbauers, dessen rätselhaftes Verschwinden während der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 den Konflikt zwischen Leontine und dem Volksgruppenführer Schmidt auf die Spitze treibt. Schmidt vermutet nämlich, Leontine könnte wissen, wo sich Albert Ziegler versteckt hält, und droht ihr offen mit Ächtung sowie der Vernichtung all ihrer Lebensmöglichkeiten, falls sie ihm den Piloten nicht ausliefert, weiterhin auf ihren politischen Positionen beharrt und nicht bereit ist, sich dem Willen der nationalsozialistischen Volksgruppe zu fügen.
Leontine verweigert sich diesem Ansinnen, aber sie nimmt schließlich das Angebot ihres früheren Freundes Herfurth an, in denselben Viehwaggon zu steigen und einem unfreiwilligen, ungewissen Exil entgegenzureisen, in dem die jungen, frisch geworbenen Männer der Waffen-SS einer Karriere als KZ-Wachmänner und Kriegsverbrecher entgegenstreben.
Am Abend dieses 21. Januar 1941, dies erfährt der Leser in einem slapstickreifen Erzählpassus, findet in Bukarest eine Erhebung der faschistischen Legionäre gegen den Diktator Antonescu statt, bei der jüdische Bürger ausgeraubt, gefoltert und ermordet werden. Im Wald von Jilava bei Bukarest wurden 90 Juden bestialisch ermordet, und im Bukarester Schlachthaus wurden die dort durch Genickschuss getöteten Juden an Fleischerhaken aufgehängt und zur Schau gestellt.
Marschall Ion Antonescu hatte nämlich wenige Tage zuvor Hitler in Berlin besucht und diesem versprochen, die radikaleren und offen verbrecherischen Legionäre unter deren militantem Führer Horia Sima zu entmachten. Nach drei Tagen der Kämpfe, die mit der Niederschlagung der Legionärsrebellion endeten, setzte sich die staatlich geordnete und kontrollierte Ausplünderung der Juden durch; Antonescu konnte jetzt seinem deutschen Verbündeten einen funktionierenden Staat an die Seite stellen. Keinen Platz sollte es mehr geben für Abenteurer und Hasardeure - aber auch keine Alternative zum geordneten Weg in den Untergang.
Was aber lässt ein dermaßen ausführlich sich den zeitgeschichtlichen Problemen und Konflikten widmendes Buch zu einem Roman und zugleich zur spannenden Lektüre werden? Was ist schön an diesem Roman? Gewiss die Blickschärfe der Erzählerin, ihr sicheres Gespür für die Verbindung von scheinbar banalem Alltagsgeschehen mit den "politischen Schicksalsfragen", die Genauigkeit, mit der die vielen, zumeist nur wenige Seiten umfassenden Szenen gebaut sind. Und es ist nicht zuletzt das Tempo sowie die vertraute Fremdheit einer Sprache, die die Leser mit lauter miniaturisierten Einsichten belohnt.
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